OVG Weimar, Urt. v. 21.06.2012 – 3 N 653/09 – „Keine Alkoholverbote im öffentlichen Raum“
ZVR-Online Dok. Nr. 58/2012 – online seit 06.11.2012
§ 27 Abs. 1 ThürOBG, § 54 ThürOBG
Leitsätze der Redaktion
1. Selbst wenn es als einigermaßen gesichert angesehen werden könnte, dass beleidigende Pöbeleien und bestimmte Gewalttätigkeiten häufig oder gar überwiegend unter Alkoholeinfluss begangen würden, so besagte dies noch nichts darüber, ob Alkoholkonsum regelmäßig und typischerweise die Beleidigungs- und Gewaltbereitschaft erhöht. | Rn. 1 |
2. Ein bloßes „subjektives Unsicherheitsgefühl“ kann für sich besehen nicht Schutzgut der öffentlichen Sicherheit sein. | Rn. 2 |
3. Der Gesetzgeber unterliegt hinsichtlich seiner Kompetenz, eine Rechtsgrundlage für die Aussprache von Alkoholverboten im öffentlichen Raum zu schaffen, den Schranken der verfassungsmäßigen Ordnung (vgl. Art. 20 Abs. 3 GG). | Rn. 3 |
Tatbestand Der Antragsteller wendet sich gegen das im Juni 2008 in die Ordnungsbehördliche Verordnung zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung in der Landeshauptstadt Erfurt vom 16. Mai 2003 (im Weiteren: Stadtordnung) eingefügte Verbot, in Fußgängerbereichen und an weiteren bestimmten innerstädtischen Plätzen Alkohol zu konsumieren, wenn damit ein „Lagern von Personengruppen“ oder ein „längeres Verweilen einzelner Personen“ verbunden ist. | Rn. 4 |
Die entsprechende Regelung ist Teil des § 8a (nämlich dessen Absatz 2), der durch Änderungsverordnung vom 26. Juni 2008, bekannt gemacht im Amtsblatt der Antragsgegnerin vom 4. Juli 2008, in die Stadtordnung eingefügt wurde. | Rn. 5 |
§ 8a der Stadtordnung lautet:„Alkoholverzehr in der Öffentlichkeit | Rn. 6 |
(3) Vom Verbot der Absätze 1 und 2 ausgenommen ist der Alkoholgenuss | Rn. 7 |
Diese neue eingefügte Bestimmung ergänzt die unverändert gebliebene Vorschrift des § 8 der Stadtordnung, die folgenden Wortlaut hat:„Störendes Verhalten auf Straßen und in Anlagen | Rn. 8 |
Der Antragsteller hat zunächst mit am 18. Mai 2009 bei Gericht eingegangenem Schreiben vom selben Tage einen Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das von ihm beabsichtigte Normenkontrollverfahren gestellt. Diesem Antrag hat der Senat mit Beschluss vom 27. August 2009 • 3 SO 355/09 • entsprochen und ihm antragsgemäß seinen Prozessbevollmächtigten beigeordnet. Nach Zustellung dieses Beschlusses am 15. September 2009 hat der Antragsteller mit am 28. September 2009 bei Gericht eingegangenem Schriftsatz seines Prozessbevollmächtigten den Verfahrensgegenständlichen Normenkontrollantrag gestellt und zugleich Wiedereinsetzung in die einjährige Antragsfrist des § 47 Abs. 2 Satz 1 VwGO beantragt. | Rn. 9 |
Zur Begründung des Normenkontrollantrags trägt der Antragsteller vor: Seine von der Antragsgegnerin in Abrede gestellte Antragsbefugnis ergebe sich schon daraus, dass er Einwohner der Antragsgegnerin sei. Überdies seien gegen ihn Ordnungswidrigkeitenverfahren wegen Verstoßes gegen die angegriffene Verordnungsbestimmung des § 8a Abs. 2 der Stadtordnung eingeleitet worden. Sein Antrag sei auch begründet. Die angegriffene Norm verletze ihn in seinen Grundrechten aus Art. 2 Abs. 1 und Art. 3 Abs. 1 GG. Durch die allein in Betracht kommende Rechtsgrundlage des § 27 ThürOBG sei sie nicht gedeckt. Es fehle insoweit an der erforderlichen Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung im Sinne dieser Gesetzesbestimmung. Der bloße Alkoholgenuss in der Öffentlichkeit stelle noch keine solche Gefahr dar. Außerdem sei die angegriffene Regelung zu unbestimmt. Dies sei für vergleichbare Bestimmungen in Baden-Württemberg bereits wiederholt vom Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg entschieden worden, zuletzt in zwei Urteilen vom 28. Juli 2009. Jedenfalls genüge es für den ordnungsrechtlichen Gefahrenbegriff nicht, dass die Antragsgegnerin offenkundig bloße Behinderungen und Belästigungen verhindern wolle. | Rn. 10 |
Der Antragsteller beantragt, § 8a Absatz 2 der Ordnungsbehördlichen Verordnung zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung in der Landeshauptstadt Erfurt vom 16. Mai 2003 in der Fassung der Ersten Änderungsverordnung vom 26. Juni 2008 für unwirksam zu erklären. | Rn. 11 |
Die Antragsgegnerin beantragt, den Antrag abzulehnen. | Rn. 12 |
Sie tritt den Rügen des Antragstellers entgegen und trägt vor: Der Antrag sei bereits unzulässig, weil das Rechtsschutzbedürfnis fehle. Der Antragsteller habe bereits mehr als 140 Verfahren gegen die Antragsgegnerin geführt. Dies lege den Schluss nahe, dass es dem Antragsteller in erster Linie um das Prozessieren als solches gehe und der Ausgang des Verfahrens für ihn nur eine nachgeordnete Bedeutung habe. | Rn. 13 |
Der Antrag sei aber auch unbegründet. Die angegriffene Vorschrift der Stadtordnung sei formell und materiell rechtmäßig. Anlass für die Ergänzung der Stadtordnung um die streitgegenständliche Regelung sei gewesen, dass Bürger und Passanten verunsichert reagierten, wenn ihnen angetrunkene Personen oder Personengruppen begegneten und sie ggf. sogar belästigten. Zudem habe „das verstärkte Trinkverhalten“ negative Vorbildwirkung für Kinder und Jugendliche. Touristen und Passanten seien von angetrunkenen Personen angepöbelt worden, wodurch das Image der Landeshauptstadt Erfurt als weltoffene sowie historisch, kulturell sowie touristisch interessante Stadt geschädigt werde. Diese Ausgangssituation, der mit der angegriffenen Regelung begegnet werden sollte, sei geeignet gewesen, bei Kindern, Jugendlichen und älteren Personen sowie bei Passanten und Touristen sog. Angsträume zu schaffen. Es sei oftmals nur schwer abzuschätzen, mit welcher Intention eine alkoholisierte Person einem begegne; zudem könne Alkoholkonsum in vielen Fällen erfahrungsgemäß zu gewalttätigen Auseinandersetzungen oder anderen strafrechtlich relevanten Tatbeständen führen. Vor diesem Hintergrund sei es für Personen nur schwer einschätzbar, wie sie angemessen auf eine alkoholisierte Person reagieren sollen. | Rn. 14 |
Entgegen der Ansicht des Antragstellers genüge es für die Annahme einer abstrakten Gefahr im Sinne der Rechtsprechung, dass bei anderen durch alkoholisierte Personen ein subjektives Unsicherheitsgefühl hervorgerufen werde, wenn vor allem ältere Leute oder Kinder Unbehagen bei Kontakt mit alkoholisierten Personen empfänden und, um einen direkten Kontakt zu vermeiden, sich von solchen Wegen und Plätzen fernhielten, auf denen vermehrt Alkohol konsumiert werde; das Trinken in der Öffentlichkeit könne auch nicht mehr stets als sozialadäquate Verhaltensweise aufgefasst werden. Dass das in Streit stehende Alkoholverbot geeignet und erforderlich sei, zeige sich schließlich auch bei einer retrospektiven Betrachtung. Seit Inkrafttretender Regelung sei der Alkoholkonsum in der Erfurter Innenstadt eingedämmt worden; auch aus den Rückmeldungen der Bürger dürfe geschlossen werden, dass sich „die Situation in der Stadt deutlich verbessert“ habe. Belegt werde dies ferner durch den stetigen Rückgang der ausgesprochenen Verwarnungen. Darüber hinaus ergebe sich auch aus der Stellungnahme der Polizeidirektion Erfurt vom 31. Mai2012 nebst beigefügter statistischer Erhebung der kausale Zusammenhang zwischen Alkoholgenuss und ordnungswidrigem bzw. strafbarem Verhalten. Hinzuweisen sei schließlich auch auf die Rechtsprechung des Oberverwaltungsgerichts Berlin-Brandenburg (Urteil vom 25. Mai 2011 • OVG 5 A 1/10 •), das ebenso wie der erkennende Senat in seinem Urteil vom 26. April 2007 • 3 N 699/05 • das subjektive Sicherheitsgefühl als Schutzgut der öffentlichen Sicherheit anerkannt habe. Schließlich greife auch der vom Antragsteller erhobene Einwand mangelnder Bestimmtheit nicht durch. | Rn. 15 |
Der beteiligte Vertreter des öffentlichen Interesses stellt keinen Sachantrag, pflichtet aber der Antragsgegnerin argumentativ bei. Auch er ist der Ansicht, dass die angegriffene Satzungsnorm keinen rechtlichen Bedenken begegnet. | Rn. 16 |
Ergänzend wird auf den Inhalt der Gerichtsakten sowie der beigezogenen und zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemachten Behördenakten (Normsetzungsvorgang) Bezug genommen. | Rn. 17 |
Entscheidungsgründe
Der Normenkontrollantrag ist zulässig und begründet. | Rn. 18 |
1. Der Antrag ist gemäß § 47 Abs. 1 Nr. 2 VwGO i. V. m. § 4 ThürAGVwGO statthaft. | Rn. 19 |
Er ist überdies auch insofern zulässig, als er erst nach Ablauf der Jahresfrist des § 47 Abs. 2 Satz 1 VwGO gestellt worden ist, weil dem Antragsteller gemäß § 60 Abs. 1 VwGO Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren ist. Der Antragsteller hat bereits Mitte Mai 2009 und damit innerhalb der Jahresfrist des § 47 Abs. 2 Satz 1 VwGO (die angefochtene Satzungsbestimmung wurde bekannt gemacht im Amtsblatt der Antragsgegnerin vom 4. Juli 2008, so dass die Jahresfrist mit Ablauf des 6. Juli 2009, einem Montag, endete) ein Prozesskostenhilfegesuch für das von ihm beabsichtigte Normenkontrollverfahren bei Gericht eingereicht. Der Senat hat in seiner Entscheidung über dieses Gesuch (Beschluss vom 27. August 2009 • 3 SO 355/09 •) ausgeführt, dass ein den Vorgaben des § 117 ZPO (i. V. m. § 166 VwGO) genügender, vollständiger und mithin entscheidungsreifer Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe schon seit dem 23. Juni 2009 vorgelegen habe. | Rn. 20 |
Wie oben dargelegt, hat der Antragsteller mit am 28. September 2009 bei Gericht eingegangenem Schriftsatz seines Prozessbevollmächtigten den verfahrensgegenständlichen Normenkontrollantrag gestellt und zugleich Wiedereinsetzung in die einjährige Antragsfrist des § 47 Abs. 2 Satz 1 VwGO beantragt. Folglich hat der Antragsteller die versäumte Rechtshandlung i. S. d. § 60 Abs. 2 Satz 3 VwGO rechtzeitig innerhalb der Antragsfrist des § 60 Abs. 2 Satz 1 Hs. 1 VwGO (die mit der Zustellung des PKH-Beschlusses am 15. September 2009 zu laufen begann) nachgeholt, so dass dem Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu entsprechen ist. | Rn. 21 |
Soweit die Antragsgegnerin gegen die Wiedereinsetzung unter Berufung auf obergerichtliche Rechtsprechung und Literaturmeinungen einwendet, die Frist des § 47 Abs. 2 Satz 1 VwGO sei eine Ausschlussfrist, in die eine Wiedereinsetzung nicht möglich sei (vgl. hierzu etwa OVG NRW, Urteile vom 25. November 2004 • 7a D 113/04.NE •, S. 6 f. des Urteilsumdrucks, m. w. N., und vom 2. März 2007 • 7 D 53/06.NE •, Juris, Rdn. 15 f. sowie Beschluss vom 19. Februar 2004 • 7a D 67/03.NE •, Juris, Rdn. 23, OVG Schleswig, Urteil vom 22. Dezember 2000 • 2 K 1/99 •, Juris, Rdn. 20; offen gelassen von BayVGH, Beschluss vom 16. Oktober 2008 • 15 N 08.30 •, Juris, Rdn. 4; vgl. auch BVerwG, Beschluss vom 10. April 1996 • 4 NB 8/96 •, Juris, Rdn. 10; weitere Nachweise bei Kopp, VwGO, 15. Aufl., § 47, Rdn. 83), greift dies nicht durch. Der Senat hat seine diesbezügliche vorläufige Einschätzung aus dem Beschluss vom 27. August 2009 noch einmal überprüft und hält daran fest. Der Senat hat in diesem Beschluss ausgeführt (a. a. O., S. 3 ff. des Beschlussumdrucks): | Rn. 22 |
„Im Hinblick auf die zur Begründung dieser Ansicht angeführten Erwägungen, insbesondere den Aspekt der Rechtssicherheit, der • weil es im Rahmen des Verfahrens nach § 47 VwGO um den Bestand von Normen gehe • besonderes Gewicht erlange (vgl. nur OVG NRW, Beschluss vom 19. Februar 2004 • 7a D 67/03.NE •, Juris, Rdn. 23), hat der Senat bereits Zweifel, ob sich diese auf die hier gegebene Konstellation übertragen lassen. Denn hier hat der Antragsteller bereits Mitte Mai 2009 und damit deutlich innerhalb der Jahresfrist durch seinen mit dem Prozesskostenhilfegesuch verbundenen, wenn auch mangels anwaltlicher Vertretung unzulässigen ‘Antrag‘ zum Ausdruck gebracht, dass er die inmitten stehende Änderungsverordnung mit einem Normenkontrollantrag angreifen wolle. Sowohl aus Sicht der Antragsgegnerin als auch aus der Perspektive der potentiell betroffenen Bürger stellt sich die durch den innerhalb der Jahresfrist gestellten Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe gegebene Situation kaum anders dar, als wenn fristgerecht ein Normenkontrollantrag durch eine anwaltlich vertretene Person mit dem bloßen Bemerken bei Gericht eingereicht worden wäre, der Antrag werde einstweilen „rein vorsorglich und zur Fristwahrung“ gestellt. In beiden Fällen dürfte ‘das durch die Fristbestimmung geschützte Vertrauen einer meist nicht genau bestimmbaren Zahl Dritter‘ (vgl. dazu OVG NRW, Beschluss vom 19. Februar 2004, a. a. O.) in gleicher Weise erschüttert und damit eben nicht schützenswert sein. Hier wie dort ist in Bezug auf den • zweifelsfrei bedeutsamen • Aspekt der Gewissheit um den Normenbestand die Lage durchaus vergleichbar: Durch den ‘Angriff‘ auf die Norm innerhalb der Jahresfrist ist deren Bestand in Frage gestellt; der Normgeber und die anderen von der Norm betroffenen Personen müssen und können sich darauf einstellen. | Rn. 23 |
Hinzu kommen hier die Besonderheiten des Prozesskostenhilferechts und dessen • verfassungsrechtlich durch Art. 3 Abs. 1 i. V. m. Art. 20 Abs. 1 GG verbürgte (vgl. nur BVerfG, Beschlüsse vom 22. Januar 1959 • 1 BvR 154/55 •, BVerfGE 9, 124, und vom 6. Juni 1967 • 1 BvR 282/65 •, BVerfGE 22, 83; beide auch in Juris) • Funktion, die Situation von Unbemittelten und Bemittelten bei der Verwirklichung des Rechtsschutzes weitgehend anzugleichen, Unbemittelte also im Hinblick auf die Wahrnehmung ihrer Rechte nicht deswegen schlechterzustellen, weil sie unbemittelt sind. | Rn. 24 |
In diesem Kontext ist zunächst darauf hinzuweisen, dass es der prozesskostenhilferechtlich Bedürftige • auch dann, wenn er das seinerseits Erforderliche (und dies ggf. sehr zeitig) getan hat • selbst nicht mehr in der Hand hat, wann über seinen Antrag entschieden (und ihm ein Anwalt beigeordnet) wird. Er ist letztlich der • mehr oder minder • zügigen Verfahrensförderung durch das Gericht ausgesetzt (und ggf. auch dem prozessualen Verhalten des Gegners). | Rn. 25 |
Demnach könnte es auf eine Benachteiligung Unbemittelter hinauslaufen, wenn man die in Bezug auf andere Konstellationen durchaus plausibel begründete Ansicht, § 47 Abs. 2 Satz 1 VwGO sei eine Ausschlussfrist, mit der Konsequenz des ‘Verbots der Wiedereinsetzung‘ auch auf Fälle übertrüge, in denen fristgerecht ein im oben beschriebenen Sinne vollständiges und entscheidungsreifes Prozesskostenhilfegesuch bei Gericht eingegangen ist. Es ist vielmehr in der höchstrichterlichen Rechtsprechung anerkannt, dass auch in Bezug auf sog. Ausschlussfristen, bezüglich deren der Rechtssicherheit wegen grundsätzlich keine Wiedereinsetzung stattfindet, eine solche dennoch in den Fällen zu gewähren ist, in denen ein ordnungsgemäßer Prozesskostenhilfeantrag innerhalb der Ausschlussfrist gestellt wird (vgl. BGH, Beschluss vom 9. Juli 2003 • XII ZB 147/02 •, Juris, unter 2e der Gründe, mit Hinweis auf den Beschluss vom 12. Juni 1973 • VI ZR 121/73 •, Juris; ausweislich des letztgenannten Beschlusses hat der III. Zivilsenat an seiner früheren, gegenteiligen Auffassung, eine Wiedereinsetzung sei ‘der Rechtssicherheit halber‘ [Beschluss vom 3. November 1964 • III ZR 42/64 •, Juris, Rdn. 4] nicht möglich, nicht mehr festgehalten; vgl. ferner BVerfG, Beschluss vom 6. Juni 1967 • 1 BvR 282/65 •, a. a. O., Juris, s. dort insbes. Rdn. 8).“ | Rn. 26 |
Der Senat geht nunmehr nicht nur davon aus, dass die Verwehrung einer Wiedereinsetzung in den vorigen Stand unter den tatsächlichen Voraussetzungen, wie sie hier vorliegen, auf eine Benachteiligung Unbemittelter hinauslaufen könnte, sondern dass damit tatsächlich eine mit dem Grundgesetz nicht zu vereinbarende Benachteiligung Unbemittelter verbunden wäre. | Rn. 27 |
Auch die weiteren Zulässigkeitsvoraussetzungen sind im Falle des Antragstellers erfüllt. Insbesondere ist er schon als Einwohner der Antragsgegnerin, der in den inmitten stehenden Stadtgebieten Alkohol zu sich nehmen möchte, antragsbefugt i. S. d. § 47 Abs. 2 Satz 1 VwGO. Des Weiteren begründet auch die Tatsache, dass er Adressat mehrerer Bußgeldbescheide wegen Verstoßes gegen die von ihm bekämpfte Regelung der Stadtordnung ist, seine Antragsbefugnis. Gerade vor diesem Hintergrund liegt der Einwand der Antragsgegnerin, dem Antragsteller fehle das Rechtsschutzbedürfnis, weil es ihm in erster Linie ums Prozessieren gehe und der Ausgang des Verfahrens für ihn nur eine untergeordnete Bedeutung habe, neben der Sache. | Rn. 28 |
2. Der mithin zulässige Antrag hat auch in der Sache Erfolg. Die Bestimmung des § 8a Abs. 2 der Stadtordnung der Antragsgegnerin ist mit der allein als Rechtsgrundlage in Betracht kommenden Regelung des § 27 Abs. 1 ThürOBG nicht vereinbar. Diese Gesetzesbestimmung ermächtigt Kommunen, Landkreise und das Landesverwaltungsamt, „ordnungsbehördliche Verordnungen“ zu erlassen, also der „Abwehr von Gefahren für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung“ dienende „Gebote oder Verbote, die für eine unbestimmte Zahl von Fällen an eine unbestimmte Zahl von Personen gerichtet sind“. | Rn. 29 |
In dieser Verordnungsermächtigung hat sich der Landesgesetzgeber für den herkömmlichen abstrakten Gefahrenbegriff entschieden (vgl. nur das Senatsurteil vom 26. April 2007 • 3 N 699/05 •, Juris, Rdn. 47 unter Hinweis auf den Senatsbeschluss vom 27. November 2003 • 3 EO 427/02 •, S. 6, n. v.), der in § 54 Nr. 3 lit. e ThürOBG gesetzlich definiert ist. Demnach ist die in § 27 Abs. 1 ThürOBG tatbestandlich vorausgesetzte abstrakte Gefahr (für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung) „eine nach allgemeiner Lebenserfahrung oder den Erkenntnissen fachkundiger Stellen mögliche Sachlage, die im Falle ihres Eintritts eine Gefahr gemäß den Buchstaben a bis d darstellt“, also eine Sachlage, bei der im einzelnen Fall die hinreichende Wahrscheinlichkeit dafür besteht, dass in absehbarer Zeit ein Schaden für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung eintreten wird (vgl. Senatsurteil vom 26. April 2007 • 3 N 699/05 •, Juris Rdn. 48; vgl. für das Landesrecht Sachsen-Anhalt nur das Urteil des OVG SAnh vom 17. März 2010 • 3 K 319/09 •, Juris, Rdn. 41, für das Landesrecht Baden-Württemberg das Urteil des VGH BW vom 28. Juli 2009 • 1 S 2200/08 •, Juris, Rdn. 35). Da die Vorschrift des § 27 Abs. 1 ThürOBG mithin nur insoweit als Grundlage für den Erlass einer sicherheitsbehördlichen Verordnung geeignet ist, als mit ihr Gefahren bekämpft werden sollen, die dem überkommenen abstrakten Gefahrenbegriff entsprechen, sind die inhaltlichen Anforderungen an diesen • die Reichweite der Ermächtigung begrenzenden • Begriff zu beachten, die in der höchstrichterlichen Rechtsprechung entwickelt worden sind (vgl. bereits das Senatsurteil vom 26. April 2007, a. a. O.). In dem genannten Urteil hat der Senat weiter ausgeführt (a. a. O., Juris, Rdn. 49 f.): | Rn. 30 |
„Hiernach ist die abstrakte ordnungsrechtliche Gefahr dadurch gekennzeichnet, dass aus gewissen gegenwärtigen Zuständen nach dem Gesetz der Kausalität gewisse andere Schaden bringende Zustände und Ereignisse erwachsen werden. Maßgebliches Kriterium zur Feststellung einer Gefahr ist die hinreichende Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts. Das trifft nicht nur für die konkrete Gefahr zu, die zu Abwehrmaßnahmen im Einzelfall berechtigt, sondern auch für die sicherheitsrechtlichen Verordnungen zugrunde liegende abstrakte Gefahr. Diese unterscheidet sich von der konkreten Gefahr nicht durch den Grad der Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts, sondern durch den Bezugspunkt der Gefahrenprognose oder, anders ausgedrückt, durch die Betrachtungsweise: Eine konkrete Gefahr liegt vor, wenn in dem zu beurteilenden konkreten Einzelfall in überschaubarer Zukunft mit dem Schadenseintritt hinreichend wahrscheinlich gerechnet werden kann; eine abstrakte Gefahr ist gegeben, wenn eine generell-abstrakte Betrachtung für bestimmte Arten von Verhaltensweisen oder Zuständen zu dem Ergebnis führt, dass mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ein Schaden im Einzelfall einzutreten pflegt und daher Anlass besteht, diese Gefahr mit generell-abstrakten Mitteln, also einem Rechtssatz zu bekämpfen; das hat zur Folge, dass lediglich auf den Nachweis der Gefahr eines Schadenseintritts im Einzelfall verzichtet werden kann. Auch die Feststellung einer abstrakten Gefahr verlangt mithin eine in tatsächlicher Hinsicht genügend abgesicherte Prognose: Es müssen • bei abstrakt-genereller Betrachtung • hinreichende Anhaltspunkte vorhanden sein, die den Schluss auf den drohenden Eintritt von Schäden rechtfertigen. Der erforderliche Wahrscheinlichkeitsgrad des Schadenseintritts hängt dabei von der Bedeutung der gefährdeten Rechtsgüter sowie dem Ausmaß des möglichen Schadens ab. Die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts muss umso größer sein, je geringer der möglicherweise eintretende Schaden ist, und sie darf umso kleiner sein, je schwerer der etwa eintretende Schaden wiegt. Dabei liegt es im Wesen von Prognosen, dass die vorhergesagten Ereignisse wegen anderer als der erwarteten Geschehensabläufe ausbleiben können (vgl. nur BVerwG, Urteil vom 3. Juli 2002 • 6 CN 8.01 • BVerwGE 116, 347 … zur vergleichbaren niedersächsischen Generalermächtigung des § 55 NGefAG m. w. N.). | Rn. 31 |
Von dieser mit jeder Prognose verbundenen Unsicherheit ist die Ungewissheit zu unterscheiden, die bereits die tatsächlichen Grundlagen der Gefahrenprognose betrifft. Ist die Behörde mangels genügender Erkenntnisse über die Einzelheiten der zu regelnden Sachverhalte … oder über die maßgeblichen Kausalverläufe zu der erforderlichen Gefahrenprognose nicht im Stande, so liegt keine Gefahr, sondern • allenfalls • eine mögliche Gefahr, ein Gefahrenverdacht oder ein Besorgnispotential vor. Das gilt insbesondere für Schadensmöglichkeiten, die sich deshalb nicht ausschließen lassen, weil nach dem derzeitigen Wissensstand bestimmte Ursachenzusammenhänge weder bejaht noch verneint werden können. Zwar kann auch in derartigen Situationen ein Bedürfnis bestehen, zum Schutz der etwa gefährdeten Rechtsgüter, namentlich höchstrangiger Rechtsgüter wie Leben und körperlicher Unversehrtheit von Menschen, Freiheitseinschränkungen anzuordnen. Doch beruht ein solches Einschreiten nicht auf der Feststellung einer Gefahr; vielmehr werden dann Risiken bekämpft, die jenseits des Bereichs feststellbarer Gefahren verbleiben. In diesen Fällen kommen nach dem allgemeinen Recht der Gefahrenabwehr allenfalls Maßnahmen zur weiteren Erforschung des Sachverhaltes in Betracht, nicht indessen über die Abklärung des Verdachts hinausgehende Maßnahmen, die auf die Abwehr der vermuteten Gefahr gerichtet sind. Soweit in den ordnungsrechtlichen Vorschriften • wie hier auch die Bestimmungen des Thüringer Ordnungsbehördengesetzes • ausschließlich von Gefahrenabwehr, nicht hingegen von Vorsorge oder Vorbeugung die Rede ist, wohnt dem Gefahrenbegriff nicht aus sich heraus eine Erstreckung auf die Aufgabe der Risiko- oder Gefahrenvorsorge inne. Das allgemeine Gefahrenabwehrrecht bietet deshalb keine Handhabe, derartigen Schadensmöglichkeiten im Wege der Vorsorge zu begegnen. Eine erweiternde Auslegung der entsprechenden Vorschriften, durch die der Exekutive eine Einschätzungsprärogative in Bezug darauf zugebilligt wird, ob die vorliegenden Erkenntnisse die Annahme einer abstrakten Gefahr rechtfertigen, kommt nicht in Betracht. Denn es wäre mit den Grundsätzen der Bestimmtheit gesetzlicher Ermächtigungen zu Rechtsverordnungen der Exekutive und des Vorbehalts des Gesetzes nicht vereinbar, wenn die Exekutive ohne strikte Bindung an den überlieferten Gefahrenbegriff kraft eigener Bewertung über die Notwendigkeit oder Vertretbarkeit eines Verordnungserlasses entscheiden könnte. Vielmehr ist es Sache des zuständigen Gesetzgebers, • unter Abwägung der widerstreitenden Interessen • sachgebietsbezogen darüber zu entscheiden, ob, mit welchem Schutzniveau und auf welche Weise Schadensmöglichkeiten vorsorgend entgegen gewirkt werden soll, die nicht durch ausreichende Kenntnisse belegt, aber auch nicht auszuschließen sind, und die Rechtsgrundlagen für entsprechende Grundrechtseingriffe zu schaffen (vgl. nur BVerwG, Urteil vom 3. Juli 2002 • 6 CN 8.01 • a. a. O., m. w. N.).“ | Rn. 32 |
An diesen Grundsätzen ist festzuhalten. Demnach wird eine abstrakte Gefahr i. S. d. § 27 Abs. 1 ThürOBG zu bejahen sein, wenn der Schadenseintritt regelmäßig und typischerweise, wenn auch nicht ausnahmslos zu erwarten ist (vgl. dazu auch OVG SAnh, Urteil vom 17. März 2010, a. a.O., Rdn. 41, und VGH BW, Urteil vom 28. Juli 2009, a. a. O., Rdn. 35). Ist dies nicht der Fall, so liegt lediglich ein Gefahrenverdacht oder ein Gefährdungspotential vor, so dass der Anwendungsbereich des § 27 Abs. 1 ThürOBG nicht eröffnet ist. | Rn. 33 |
So liegt es hier. Es gibt keinerlei tragfähige tatsächliche Grundlage für die Annahme, hier bestehe eine abstrakte, ordnungsrechtlich relevante Gefahr, auf Grund deren der Erlass der angegriffenen Verordnungsbestimmung des § 8a Abs. 2 der Stadtordnung gerechtfertigt wäre. | Rn. 34 |
Der Antragsgegnerin ist zwar einzuräumen, dass das durch diese Bestimmung verbotene Verhalten nicht unerhebliche Belästigungen von Passanten und Störungen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung begünstigen kann. Der Senat verkennt auch nicht, dass sich diese Gefahr in der Vergangenheit des Öfteren realisiert hat und dass es zu Beschwerden von Anwohnern und Passanten gekommen ist. Es mag auch sein, dass seit Erlass der angegriffenen Regelung die Belästigungen und Störungen rückläufig gewesen sind. | Rn. 35 |
Gleichwohl liegen die Voraussetzungen für ein behördliches Eingreifen durch Erlass einer ordnungsbehördlichen Verordnung nicht vor. Entscheidende Bedeutung kommt insoweit zunächst den konkreten Zuständen bei, die die Antragsgegnerin zum Erlass der angegriffenen Regelung veranlasst haben (vgl. auch OVG SAnh, Urteil vom 17. März 2010, a. a.O., Rdn. 44, und VGH BW, Urteil vom 28. Juli 2009, a. a. O., Rdn. 37). Dies sind insbesondere die subjektiven Ängste ihrer Bürger, von Touristen und sonstigen Passanten im örtlichen Regelungsbereich des Alkoholverbots. Darüber hinaus stünden Belange des Kinder- und Jugendschutzes inmitten. Ferner gehe es um die Abwendung von „gewalttätigen Auseinandersetzungen oder anderen strafrechtlich relevanten Tatbeständen“ und die Vermeidung von Pöbeleien, denen Bürger und Passanten häufiger ausgesetzt gewesen seien. | Rn. 36 |
Dies alles mögen verständliche und aus der Sicht vieler erstrebenswerte Ziele sein. Ob deren Durchsetzung es rechtfertigt, Freiheitsrechte anderer generell zu beschneiden (etwa derjenigen, die • allein oder in einer Gruppe • friedlich und ohne jede Belästigung anderer für ein gutes Stündchen in der Erfurter Innenstadt verweilen, währenddessen ein, zwei Flaschen Bier oder gemeinsam ein Flasche Wein konsumieren und sich dabei am regen Einkaufs- und Touristentreiben erfreuen), kann an dieser Stelle dahinstehen. Denn die Kompetenz, entsprechende Maßnahmen zur Erreichung dieser Ziele, die (lediglich) der Gefahrenvorsorge dienen, zu ergreifen, hätte derzeit allein der Gesetzgeber. Er könnte • freilich auch nur in den Schranken der verfassungsmäßigen Ordnung (vgl. Art. 20 Abs. 3 GG) und damit insbesondere unter Wahrung der Grundrechte, namentlich der Freiheitsrechte • gesetzliche Regelungen schaffen, durch die er entweder selbst Maßnahmen der Gefahrenvorsorge trifft oder durch die er den Behörden eine weitergehende Ermächtigung erteilt, als er dies mit § 27 ThürOBG getan hat, d. h. durch die er diesen gestattet, ordnungsbehördliche Verordnungen unter bestimmten Voraussetzungen auch zur (bloßen) Gefahrenvorsorge zu erlassen. | Rn. 37 |
Unter den gegebenen gesetzlichen Rahmenbedingungen, also unter Geltung des § 27 ThürOBG, indes vermögen sämtliche von der Antragsgegnerin angeführten Umstände, mit denen sie die Regelung des § 8a Abs. 2 der Stadtordnung zu begründen und zu verteidigen und mit denen sie die Annahme einer abstrakten ordnungsbehördlichen Gefahr zu rechtfertigen versucht, nicht ansatzweise die von ihr gezogenen Folgerungen zu tragen. | Rn. 38 |
So gibt es schon keine hinreichenden Anhaltspunkte dafür, dass gerade das verbotene Verhalten • das „Lagern von Personengruppen“ und das „längere Verweilen einzelner Personen“ im räumlichen Geltungsbereich der Bestimmung, wenn es mit dem Verzehr von Alkohol verbunden ist • regelmäßig und typischerweise, wenn auch nicht ausnahmslos zu einem relevanten Schaden führt. | Rn. 39 |
Soweit die Antragsgegnerin in diesem Zusammenhang als zu verhindernden Schaden die „Pöbeleien“ gegenüber Bürgern, Touristen und sonstigen Passanten anführt, ist zunächst festzustellen, dass die Verhinderung solchen Verhaltens, das im Einzelfall als strafrechtlich relevantes Delikt der Beleidigung u. ä. zu qualifizieren sein dürfte, ein durchaus anerkennenswertes Ziel ist. Dies genügt, wie bereits ausgeführt, aber allein nicht, um insofern eine abstrakte Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung im vorbeschriebenen Sinne anzunehmen. Insoweit geht es • etwa im Vergleich zu Gesundheitsbeeinträchtigungen, Straftaten gegen die körperliche Unversehrtheit und sonstigen Gewalt- bis hin zu Tötungsdelikten • um recht geringfügige Schäden, so dass die Wahrscheinlichkeit eines Schadenseintritts besonders groß sein müsste. In Anknüpfung an den vorbezeichneten allgemeinen Maßstab müsste es in diesem Falle also eine besonders ausgeprägte Regelmäßigkeit geben, müsste es in signifikantem Maße typisch sein, dass „lagernde Personengruppen“ oder „länger verweilende Einzelpersonen“ dann, wenn sie in dem näher bezeichneten Innenstadtbereich Alkohol „verzehren“, andere „anpöbeln“ oder beleidigen. Dies ist jedoch nicht der Fall. | Rn. 40 |
Selbst wenn es als einigermaßen gesichert angesehen werden könnte, dass „beleidigende Pöbeleien“ (und etwa auch bestimmte Gewalttätigkeiten) häufig oder gar überwiegend unter Alkoholeinfluss begangen würden, so besagte dies noch nichts darüber, ob • gleichsam umgekehrt • Alkoholkonsum regelmäßig und typischerweise die Beleidigungs- und Gewaltbereitschaft erhöht. Zudem hat die Antragsgegnerin hinsichtlich des angefochtenen, auf Teile ihres Stadtgebiets bezogenen Alkoholverbots nicht im Ansatz einen substantiierten Vortrag dazu geleistet, dass gerade der dort konsumierte Alkohol zu den registrierten Verfehlungen geführt hat (und nicht etwa der vorherige Alkoholgenuss, das sog. Vorglühen andernorts). Umgekehrt schließlich fehlt es auch an etwaigen Feststellungen dazu, wie viele Personen im fraglichen „Sanktionsgebiet“ Alkohol konsumieren, ohne in irgendeiner Form belästigend oder störend in Erscheinung zu treten geschweige denn ordnungswidrig oder gar strafbar zu handeln. | Rn. 41 |
Ähnliches gilt für die Berufung der Antragsgegnerin auf den Kinder- und Jugendschutz. Auch hier fehlt es an entsprechenden Feststellungen und substantiiertem Vortrag, um eine im Rechtssinne relevante abstrakte Gefahr anzunehmen, soweit es um die hier in Rede stehende Verbotsnorm des § 8a Abs. 2 der Stadtordnung geht. Die speziell auf den Kinder- und Jugendschutz zugeschnittene Regelung des Absatzes 1 des § 8a der Stadtordnung, die ein Alkoholverbot in und um Kindertageseinrichtungen und Schulen normiert, hat der Antragsteller hingegen gar nicht angegriffen. | Rn. 42 |
Letztlich hat die Antragsgegnerin in keiner Hinsicht substantiiert vorgetragen, dass regelmäßig, typischerweise oder gar stets mit dem Alkoholkonsum „lagernder Personengruppen“ oder „länger verweilender Einzelpersonen“ der Eintritt einer Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung verbunden wäre. Was die Antragsgegnerin vorgetragen hat, das entspricht der Lebenserfahrung und anderweit bestätigten Erkenntnissen: Es dürfte kaum Zweifeln unterliegen, dass der Konsum von Alkohol • jedenfalls in größeren Mengen • das Aggressions- und Gewaltpotential im Einzelfall erhöhen kann. Es mag durch statistische Untersuchungen belegt sein, dass eine große Zahl von Gewaltdelikten im Zusammenhang mit vorherigem Alkoholgenuss steht (vgl. dazu nur die Ausführungen des OVG SAnh in seinem Urteil vom 17. März 2010, a. a. O., Juris, Rdn. 46 ff.). Der Umstand, dass viele, die Ordnungswidrigkeiten und Straftaten begehen, betrunken sind, rechtfertigt aber noch nicht die Annahme, dass jeder, der Alkohol zu sich nimmt, auch Ordnungswidrigkeiten oder Straftaten begehen wird (vgl. auch dazu OVG SAnh, Urteil vom 17. März 2010, a. a. O., Juris, Rdn. 46 a. E.). | Rn. 43 |
Insofern ist die angegriffene Bestimmung auch deswegen Bedenken ausgesetzt, weil sie das mit dem Konsum von Alkohol verbundene „Lagern von Personengruppen“ und das „längere Verweilen einzelner Personen“ unabhängig davon verbietet, wie viel Alkohol getrunken wird. Diejenigen, die es sich • z. B. als arbeitslose Einwohner der Antragsgegnerin, als von der Schönheit der Stadt begeisterte Touristen, als durchreisende Radfahrer u. ä. • allein oder zu mehreren in der Innenstadt der Antragsgegnerin „gemütlich machen“ und ein, zwei Flaschen Bier oder gemeinsam eine Flasche Wein am Nachmittag trinken, sind jedenfalls nicht wegen dieses Verhaltens im ordnungsrechtlichen Sinne „gefährlich“. Wenn die Antragsgegnerin auf entsprechenden Vorhalt in der mündlichen Verhandlung sinngemäß eingewandt hat, ihr Ordnungspersonal wisse sehr wohl, mit entsprechenden besonderen Situationen umzugehen und angemessen-zurückhaltend zu reagieren, führt dies im Rahmen einer Normenkontrolle nicht weiter. Entscheidend ist, was die angegriffene Norm nach ihrem Regelungsgehalt sanktioniert. Und zu den durch § 8a Abs. 2 der Stadtordnung verbotenen Handlungen gehört ohne Zweifel auch das in vorgenannten Beispielen genannte (ordnungsrechtlich irrelevante) Verhalten. Außerdem ist die Antragsgegnerin unter Berufung auf die angegriffene Regelung wiederholt auch gegen den Antragsteller selbst eingeschritten, ohne dass in diesem Zusammenhang eine über den Verstoß gegen die (unwirksame) Verordnungsregelung hinausgehende Beeinträchtigung der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung dargelegt worden wäre. | Rn. 44 |
Schließlich kann sich die Antragsgegnerin auch nicht erfolgreich auf das (vorstehend bereits wiederholt zitierte) Urteil des Senats vom 26. April 2007 • 3 N 699/05 • (a. a. O.) berufen, das einen per ordnungsbehördlicher Verordnung verfügten Anleinzwang für Hunde betraf. Die Antragsgegnerin meint, insoweit insbesondere die damaligen Erwägungen des Senats zum „subjektiven Unsicherheitsgefühl“ für sich fruchtbar machen zu können, das der Senat „als Schutzgut der öffentlichen Sicherheit anerkannt“ habe. | Rn. 45 |
Der Antragsgegnerin ist diesbezüglich zuzugeben, dass die Formulierung zu Beginn der einschlägigen Ausführungen • „Darüber hinaus begründet das subjektive Unsicherheitsgefühl, das schon durch das Umherlaufen nicht angeleinter Hunde bei Menschen in örtlicher Nähe hervorgerufen werden kann, selbst eine abstrakte Gefahr für die öffentliche Sicherheit“ (Senatsurteil vom 26. April 2007, a. a. O., Juris, Rdn. 60) • tatsächlich den Schluss nahelegt, nach (damaliger) Ansicht des Senats könne das „subjektive Unsicherheitsgefühl“ bereits für sich besehen eine abstrakte Gefahr für die öffentliche Sicherheit begründen. Dieser Schluss wird zwar durch die weiteren Ausführungen wieder in Frage gestellt, nämlich insofern, als der Senat letztlich doch darauf abhebt, dass ein solches Unsicherheitsgefühl bei den betroffenen Personen zu ängstlichem Verhalten führen könne, das dann bei dem Hund weitere Reaktionen auslösen könne, die die Angst der betreffenden Menschen noch vergrößerten, und auf diese Weise einen „gefahrenerhöhenden Kreislauf“ in Gang setzen könne. Solche erst durch mögliche „Fehlreaktionen“ von Passanten ausgehende Verhaltensweisen von Hunden seien als „hundetypisch“ einzuordnen und in die Beurteilung einzubeziehen (Senatsurteil vom 26. April 2007, a. a. O.). Diese Ausführungen sprechen eher dafür, dass der Senat nicht das subjektive Unsicherheitsgefühl als solches als Schutzgut angesehen hat, sondern dass er diesem Unsicherheitsgefühl deswegen gefahrenrechtliche Relevanz beigemessen hat, weil es die in Rede stehenden, von nicht angeleinten Hunden ausgehenden Gefahren erhöhen könne. Ausschließlich in diesem Sinne dürfte jedenfalls das von der Antragsgegnerin ebenfalls für sich in Anspruch genommene Urteil des Oberverwaltungsgerichts Berlin-Brandenburg vom 25. Mai 2011 • OVG 5 A 1/10 • zu verstehen sein. Darin wird keinesfalls das subjektive Unsicherheitsgefühl als solches zum Schutzgut der öffentlichen Sicherheit erhoben. Vielmehr sei dieses im Hinblick auf die von Hunden ausgehenden Gefahren „zu berücksichtigen“, weil „gerade auch ängstliches Verhalten… bei ansonsten unauffälligen Hunden weitere Reaktionen und auf diese Weise einen gefahrerhöhenden Kreislauf in Gang setzen“ könne (Juris, s. dort Rdn. 27 a. E.). | Rn. 46 |
Um für die Zukunft etwaigen Missverständnissen vorzubeugen, hält der Senat folgende Klarstellung für geboten: Soweit nach jenem Senatsurteil vom 26. April 2007 einem „subjektiven Unsicherheitsgefühl“ eine weitergehende gefahrenrechtliche Bedeutung als die vorstehend beschriebene zukommen kann, hält der Senat daran nicht fest. Ein bloßes „subjektives Unsicherheitsgefühl“ kann für sich besehen nicht Schutzgut der öffentlichen Sicherheit sein (ebenso: Nds. OVG, Urteil vom 27. Januar 2005 • 11 KN 38/04 •, Juris, Ls. und Rdn. 45). Dies ließe sich schon nicht mit dem klassischen, hier maßgeblichen Gefahrenbegriff in Einklang bringen, wie er in der ständigen verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung, namentlich auch derjenigen des Bundesverwaltungsgerichts (vgl. dazu nur BVerwG, Urteil vom 3. Juli 2002 • 6 CN 8/01 •, Juris, Rdn. 34 ff.), zu Grunde gelegt wird. Danach wird gerade voraussetzt, dass grundsätzlich objektiv und mit hinreichender Wahrscheinlichkeit der Eintritt eines Schadens droht. Demgegenüber soll es beim „subjektiven Unsicherheitsgefühl“ nicht darauf ankommen, ob es „einer tatsächlichen (objektiven) Gefährdung von Personen oder Sachen entspricht“ (vgl. nur das Senatsurteil vom 26. April 2007, a. a. O., Juris, Rdn. 60). | Rn. 47 |
Auch mit der weiteren Erwägung, die ausgelösten Ängste seien „unabhängig davon, ob sie objektiv begründet sind, jedenfalls unter dem Gesichtspunkt der öffentlichen Sicherheit rechtserheblich, weil sie andere Menschen in ihrem Anspruch, ‘frei von Angst ihrer Wege gehen zu dürfen‘ (Art. 2 Abs. 1 GG), beeinträchtigen“ (so das Senatsurteil vom 26. April 2007, a. a. O., Juris, Rdn. 61), lässt sich die Annahme einer ordnungsrechtlich relevanten abstrakten Gefahr nicht begründen. Insoweit ist zunächst anzumerken, dass der in dem damaligen Urteil angeführten Literatur und Rechtsprechung eine solch weitgehende Aussage nicht entnommen werden kann. So hat Rachor an der genannten Stelle (Lisken/Denninger, Handbuch des Polizeirechts, 3. Aufl., 2001, F 84), an der es ebenfalls um von Hunden ausgehende Gefahren geht, zwar in der Tat von einem Anspruch gesprochen, „frei von Angst ihrer Wege gehen zu dürfen“; denn Schutzgut sei nicht nur die körperliche Integrität, sondern auch das seelische Wohlbefinden. Dabei setzt der Autor jedoch ausdrücklich voraus, dass eine „berechtigte Angst“ vorliegt (die er z. B. schon dann nicht als gegeben ansieht, wenn sich ein Hund dem Menschen langsam nähert und ihn zunächst beschnuppert, ehe er ihn anspringt; vgl. Rachor, a. a. O.). Auch die in dem Urteil vom 26. April 2007 (a. a. O., Juris, Rdn. 61) weiterhin zitierten obergerichtlichen Rechtsprechung, die sich gleichfalls auf von (freilaufenden) Hunden ausgehende Gefahren (insbesondere für Kinder und ältere Menschen) bezieht, trägt nicht die verallgemeinernde Schlussfolgerung, ein (bloßes) subjektives Unsicherheitsgefühl sei Schutzgut der öffentlichen Sicherheit. | Rn. 48 |
Einem solchen Unsicherheitsgefühl kann indes, worauf alternativ auch der Senat schon in jenem Urteil vom 26. April 2007 abgestellt hat, mittelbar gefahrenrechtliche Relevanz beizumessen sein, nämlich dann, wenn es geeignet ist, andere ordnungsrechtlich bedeutsame Gefahren zu erhöhen, wie es etwa der Fall sein kann, wenn ein im Umgang mit Hunden ängstlicher („subjektiv unsicherer“) Mensch einem nicht angeleinten Hund begegnet (s. o.; vgl. auch OVG B-Bbg, Urteil vom 25. Mai 2011, a. a. O., Juris, Rdn. 27). Ordnungsrechtlich ist das „subjektive Unsicherheitsgefühl“ dann aber nicht als Schutzgut der öffentlichen Sicherheit von Belang, sondern als in tatsächlicher Hinsicht gefahrerhöhendes Moment. | Rn. 49 |
Dafür, dass die nach Ansicht der Antragsgegnerin bei (einigen) Bürgern und Passanten vorhandene Verunsicherung bei der Begegnung mit angetrunkenen Personen hier ein solches gefahrerhöhendes Moment darstellen könnte, ist weder etwas vorgetragen noch sonst ersichtlich. Hinzu kommt, dass diese Begründung der Antragsgegnerin das angegriffene Alkoholverbot selbst dann nicht rechtfertigen könnte, wenn man ein bloßes „subjektives Unsicherheitsgefühl“ als Schutzgut der öffentlichen Sicherheit in Betracht zöge. Die Antragsgegnerin selbst nennt als Grund der etwaigen Verunsicherung die Begegnung mit „angetrunkenen“ Personen, mit Personen also, die irgendwelche Ausfallerscheinungen haben oder sich jedenfalls in einer Weise auffällig verhalten, dass man ihnen das „Angetrunkensein“ anmerkt, die also bereits eine nicht unerhebliche Menge an Alkohol konsumiert haben. Diese Begründung indes wäre selbst dann, wenn es das Schutzgut „subjektives Unsicherheitsgefühl“ gäbe, in mehrfacher Hinsicht nicht geeignet, das konkrete, hier in mitten stehende Verbot zu rechtfertigen: | Rn. 50 |
Erstens lässt diese Argumentation völlig außer Betracht, dass der Genuss von Alkohol im Innenstadtbereich keineswegs stets oder auch nur regelmäßig und typischerweise in ein Angetrunkensein mündet. Demnach stellt sich hier schon die Frage, ob das generelle Alkoholverbot für „lagernde“ Personengruppen und länger verweilende Einzelpersonen zum Schutz vor „subjektiver Unsicherheit“ überhaupt erforderlich wäre. Zweitens vermöchte dieses Argument kaum die Differenzierung zwischen dem grundsätzlichen Alkoholverbot im räumlichen Geltungsbereich der Regelung einerseits und der Ausnahme „innerhalb zugelassener Freischankflächen“ andererseits zu rechtfertigen. Des Weiteren fehlt jegliche Abwägung, ob die „Verunsicherung“ einzelner bei der Begegnung mit etwaigen Angetrunkenen es rechtfertigen kann, die Freiheitsrechte anderer zu beschränken, die, wie oben bereits beispielhaft erläutert, als Bürger der Stadt, als touristische Fußgänger oder durchreisende Radfahrer ohne jegliche weitere Beeinträchtigung anderer eine Zeitlang in der Innenstadt verweilen und außerhalb der zugelassenen Freischankflächen (geringe Mengen) Alkohol zu sich nehmen möchten. Dies gilt umso mehr, als im Falle konkreter Belästigungen im Einzelfall, etwa bei Beleidigungen oder gar Handgreiflichkeiten, ordnungsbehördliche Eingriffsbefugnisse bereits durch § 8 der Stadtordnung (und ggf. auch durch andere Bestimmungen des Polizei- und Ordnungsrechts) eröffnet wären. | Rn. 51 |
Soweit die Antragsgegnerin mit Blick auf diese Vorschrift Praktikabilitätsaspekte und Beweisschwierigkeiten geltend macht, verfängt auch dies nicht. Sie weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass Maßnahmen nach § 8 der Stadtordnung stets den Nachweis erfordern, in welcher konkreten Weise eine bestimmte Person gegen diese Bestimmung verstoßen habe. Demgegenüber ermögliche die angegriffene Regelung des § 8a Abs. 2 der Stadtordnung ein Einschreiten bereits auf Grund des Alkoholkonsums; sie sei daher wesentlich praktikabler und gewährleiste einen effektiveren Schutz der öffentlichen Sicherheit und Ordnung. Hinzu komme, dass Passanten und Betreiber anliegender Geschäfte aus Furcht oft nicht bereit seien, gegen die Störer auszusagen. Auch solche Beweisschwierigkeiten würden durch die neue Regelung weitgehend behoben. | Rn. 52 |
Mit derartigen Erwägungen kann eine Gefahrenabwehrregelung grundsätzlich nicht gerechtfertigt werden. Es entspricht einem allgemeinen Grundsatz des Polizei- und Ordnungsrechts, dass polizeiliche bzw. ordnungsbehördliche Verfügungen bzw. die Wahl einer bestimmten Handlungsform nicht nur zur Erleichterung der behördlichen Aufsicht dienen dürfen (vgl. nur das Urteil des OVG SAnh vom 17. März 2010, a. a. O., Rdn. 43, m. w. N.). | Rn. 53 |
Nur der Vollständigkeit halber sei abschließend darauf hingewiesen, dass der Alkoholgenuss in der Öffentlichkeit keinesfalls allgemein verboten ist. Von besonderen Regelungen (z. B. zum Zwecke des Jugendschutzes) abgesehen, ist vielmehr das Gegenteil der Fall: Grundsätzlich darf man • nach den geltenden, vom hierfür zuständigen Gesetzgeber erlassenen Gesetzen • in der Öffentlichkeit Alkohol konsumieren. Sollte es dennoch im konkreten Fall zu den in § 8 der Stadtordnung seitjeher geregelten Störungen kommen, bleibt es den Bediensteten der Ordnungsbehörde der Antragsgegnerin (und ggf. der Polizei) unbenommen, nach Maßgabe dieser Verordnungsbestimmung einzuschreiten. | Rn. 54 |
3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO; danach hat der unterliegende Teil die Kosten zu tragen. Zu den folglich von der Antragsgegnerin zu tragenden Kosten gehören indes nicht die außergerichtlichen Kosten des beteiligten Vertreters des öffentlichen Interesses, weil die Voraussetzungen des § 162 Abs. 3 VwGO nicht erfüllt sind. Der Beteiligte hat selbst keinen Sachantrag gestellt und ist somit kein eigenes Kostenrisiko eingegangen (vgl. § 154 Abs. 3 VwGO); demnach entspräche es nicht der Billigkeit, ihm Kostenerstattung zu gewähren. | Rn. 55 |
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit des Urteils hinsichtlich der Kosten beruht auf den §§ 167 VwGO, 708 Nr. 10, 711 ZPO. | Rn. 56 |
Revisionszulassungsgründe i. S. d. § 132 Abs. 2 VwGO liegen nicht vor. | Rn. 57 |